Platzierung im Hauptstudium des modularisierten SJ: HS I M 11
1. Rechtsgrundlagen
Grundlagen des EU-Rückführungsrechts sind: - EU-Rückführungsrichtlinie RL 2008/115/EG vom 16.12.2008 (ABl.-EU 2008 L 348/98 vom 24.12.2008), in Kraft getreten 13.01.2009 - und das Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher
Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler
Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex vom 22.11.2011 (BGBl. I 2258 vom
25.11.2011), in Kraft getreten am 26.11.2011.
2. Gegenstand und Anwendungsbereich der EU-Rückführungsrichtlinie
2.1 Räumlicher Anwendungsbereich
Die RL 2008/115/EG ist uneingeschränkt verbindlich für alle EU-Staaten mit Ausnahme von Dänemark, Großbritannien und Irland (wegen des in den Beitrittsverträgen vereinbarten Vorbehaltes gegen die gemeinsame Visa- und Migrationspolitik).
Sie ist eingeschränkt verbindlich nur in Bezug auf Kurzaufenthalte nach dem Schengen-Recht / Art. 5 I VO (EG) Nr. 562/2006 (bis drei Monate innerhalb eines Bezugszeitraumes von sechs Monaten bzw. - zukünftig - 90 Tage innerhalb eines Bezugszeitraumes von 180 Tagen) für
- Dänemark, - Island, - Liechtenstein, - Norwegen - und die Schweiz.
2.2 Personeller Anwendungsbereich
Die RL bezieht sich auf Drittstaatsangehörige und gilt daher nicht für Staatsangehörige der EU- und EWR-Staaten und der Schweiz und freizügigkeitsberechtigte Familienangehörige von EU-/EWR-/Schweizer Staatsangehörigen.
2.3 Sachlicher Anwendungsbereich
Die RL 2008/115/EG regelt einheitlich die
Aufenthaltsbeendung ab Eintritt der Illegalität des Aufenthaltes und
Eintritt der Ausreisepflicht.
Die RL ist nicht verbindlich für folgende Fallkonstellationen: - Zurückweisungen (Art. 2 II a) -1. Alt.- der RL), - Abfangaufgriffe an der Außengrenze (Art. 2 II a) -2. Alt.- der RL), - Aufenthaltsbeendung nach Ausweisung wegen einer Straftat (Art. 2 II b) -1. Alt.- der RL), - Auslieferungen (Art. 2 II b) -2. Alt.- der RL).
Nach der RL ist der Regelfall der Aufenthaltsbeendung eine Rückkehrentscheidung zum Verlassen der Hoheitsgebiete aller Anwenderstaaten (Art. 3 Nr. 3, Art. 6 I der RL). Ausnahmen bestehen für den Fall eines Aufenthaltsrechts in einem Anwenderstaat (Art. 6 II der RL; umgesetzt in § 50 III Satz 2 AufenthG) und die interne Rückübernahme durch einen anderen Anwenderstaat aufgrund z.Zt. des Inkrafttreten (13.01.2009) geltenden Rückübernahmeabkommens (Art. 6 III der RL).
Nach der Systematik der EU-Rückführungsrichtlinie RL 2008/115/EG gelten ihre Regelungen nicht
für Dublin II-Rückkehrer nach der VO (EG) Nr. 343/2003 - daher ist die
Dublin II-Rückführung nach der VO (EG) Nr. 1560/2003 eine Maßnahme
eigener Art, die Vorrang vor der Zurückschiebung oder Abschiebung nach §§ 57, 58 AufenthG hat (VG Frankfurt/M. NVwZ-RR 2012, 45) und nicht zu dem mit einer Zurückschiebung oder Abschiebung
verbundenen Einreiseverbot (Art. 11 I RL 2008/115/EG) führen dürfte.
3. Rückkehrverfahren
3.1 Ausreisepflicht
Nach deutschem Recht kann die Ausreisepflicht gem. §
50 I AufenthG sowohl durch Verwaltungsakt als auch kraft Gesetzes eintreten. Verwaltungsakte dieser Art können insbesondere - der Widerruf eines Aufenthaltstitels (§ 51 I Nr. 4 iVm. § 52 AufenthG) - oder die Ausweisung (§ 51 I Nr. 5 iVm. §§ 53, 54, 55 AufenthG) sein. Fälle des Eintrittes kraft Gesetzes sind - der Ablauf der zeitlichen Geltung eines
Aufenthaltstitels (§ 51 I Nr. 1 AufenthG), - das Erlöschen einer
Aufenthaltsgestattung im Asylverfahren (§ 67 I AsylVfG), - das Erlöschen einer Befreiung von der Visumpflicht, z.B. durch Ablauf des 90-Tage-Zeitraumes im Falle einer Visabefreiung gem. Anhang II EUVisaVO - oder der Aufenthalt
ohne erforderlichen Aufenthaltstitel nach unerlaubter Einreise.
3.2 Rückkehrentscheidung
Zentraler Bestandteil des
Rückführungsverfahrens ist die Rückkehrentscheidung gem. Art. 3 Nr. 3, Nr. 4, 6
I RL 2008/115/EG. Diese ist unverändert nicht ausdrücklich im AufenthG geregelt. Die Gewährung einer Ausreisefrist gem. § 59 AufenthG ist Teil
der Rückkehrentscheidung i.S.v. Art. 6 I, 7 I RL 2008/115/EG (LG Frankfurt/M.,
Beschl. v. 24.01.2012 – 2-29 T 15/12). Ohne Rückkehrentscheidung ist weder eine
Abschiebung noch die Anordnung von Abschiebungshaft zulässig (LG Frankfurt/M.,
Beschl. v. 24.01.2012 – 2-29 T 15/12).
Die Gewährung einer Ausreisefrist gem. § 59 AufenthG ist Teil
der Rückkehrentscheidung iSv. Art. 6 I, 7 I RL 2008/115/EG (LG Frankfurt/M.,
Beschl. v. 24.01.2012 – 2-29 T 15/12). Eine Ausweisung (§§ 53, 54, 55
AufenthG) ist jedoch keine Rückkehrentscheidung (VGH Baden-Württemberg, Urt. v.
04.05.2011 – 11 S 207/11; Urt. v. 20.10.2011 – 11 S 1929/11; Urt. v. 10.02.2012
– 11 S 1361/11).
3.3 Zielstaat der Ausreisepflicht
Gem. § 50 III Satz 1 AufenthG wird die Ausreisepflicht (§ 50 I AufenthG) nicht erfüllt,wenn der Drittstaatsangehörige in einen anderen EU- oder Schengen-Staat einreist, in dem er kein Aufenthaltsrecht besitzt. In diesem Fall wird die Ausreisepflicht nur durch Einreise in einen Drittstaat erfüllt. Im Falle eines Aufenthaltsrechts in einem EU-/Schengen-Staat wird die Ausreisepflicht durch Einreise in diesen Staat erfüllt. Die Regelung entspricht Art. 6 I und Art. 6 II der RL. Gem. § 50 III Satz 2 AufenthG ist der Drittstaatsangehörige in diesen Fällen aufzufordern, in den betr. EU-/Schengen-Staat auszureisen. Diese Aufforderung zur eigeninitiierten Ausreise hat Vorrang vor einer Abschiebungsandrohung und vor einer Zurück- oder Abschiebung (VG Düsseldorf, Beschl. v. 04.06.2012 - 22 L 613/12).
3.4 Ausreisefrist
Einer Abschiebung hat gem. § 59 I AufenthG in Umsetzung von Art. 7 RL 2008/115/EG das Gewähren einer
Ausreisefrist von sieben bis 30 Tagen vorauszugehen. Davon kann ausnahmsweise abgesehen werden in Fällen, in
denen der begründete Verdacht besteht, dass der Drittstaatsangehörige
sich der Abschiebung entziehen wird oder eine Ausreise aufgrund eigener
Initiative mit einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit verbunden
wäre.
§ 59 VIII AufenthG schreibt das Informieren von Opfern illegaler
Beschäftigung nach Art. 6 II, 13 RL 2009/52/EG vor. § 59 VII AufenthG
sieht für diesen Personenkreis und Opfer von Menschenhandel eine
Ausreisefrist von mindestens drei Monaten vor (in der
EU-Opferschutz-Richtlinie RL 2004/81/EG allerdings als Erholungs- und
Bedenkzeit und nicht als Ausreisefrist vorgesehen).
Hat der Drittstaatsangehörige in ein Aufenthaltsrecht in einem anderen EU-/Schengen-Staat, so ist er gem. § 50 III Satz 2 AufenthG
(in Umsetzung von Art. 6 II RL 2008/115/EG) zur Ausreise dorthin
aufzufordern - diese Ausreiseaufforderung hat Vorrang vor einer
Abschiebungsandrohung und Abschiebung (VG Düsseldorf, Beschl. v.
04.06.2012 . 22 L 613/12).
4. Abschiebung
4.1 Voraussetzung
Nach ergebnislosem Ablauf der Ausreisefrist oder in Fällen ohne Gewährung der Ausreisefrist erfolgt die zwangsweise Rückführung im Wege der Abschiebung (Art. 8 RL 2008/115/EG, § 58 AufenthG). Die Zuständigkeit liegt im Regelfall bei der Ausländerbehörde (§ 71 I AufenthG).
4.2 Grenzraumabschiebung
Gem. §
71 III Nr. 1a, 1b AufenthG ist die Grenzpolizei für die Abschiebung
zuständig im Falle des Aufgriffs im Grenzraum nach einer unerlaubten
Einreise. Das gilt auch, wenn der Drittstaatsangehörige sich im Inland
weiter bewegt hat und in einem anderen Grenzraum (ohne Einreisebezug)
oder auf einem als Grenzübergangsstelle zugelassenen oder nicht
zugelassenen Flughafen oder Seehafen aufgegriffen wird.
4.3 Minderjährigenschutz
In Umsetzung von Art. 10 RL 2008/115/EG ist gem. §
58 Ia AufenthG vor der Abschiebung eines Minderjährigen sicher zu
stellen, dass dieser im Rückkehrstaat seiner Familie, einem zur
Personensorge Berechtigten oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung
übergeben wird.
5. Zurückschiebung
DieZurückschiebung ist als Ausnahme vom Rückkehrverfahren nur noch auf folgende Fallkonstellationen beschränkt:
5.1 Zurückschiebung nach "Abfangaufgriff" an der Außengrenze
Entsprechend Art. 2 II a RL 2008/115/EG ist die Zurückschiebung nach einem „Abfang-Aufgriff“ nach unerlaubter Einreise über eine Schengen-Außengrenze vorgesehen (§ 57 I AufenthG).
5.2 Intra-Schengen-Zurückschiebung
Entsprechend Art. 6 III RL 2008/115/EG darf die Zurückschiebung im Falle eines sonstigen Inlandsaufgriffs eines vollziehbar ausreisepflichtigen Drittstaatsangehörigen erfolgen, wenn der Drittstaatsangehörige auf Grund eines am 13.01.2009 geltenden Rückübernahmeabkommens von einem der Vertragsstaaten zurück genommen wird (§ 57 II -1. Halbsatz- AufenthG).
Die RL 2008/115/EG ist nicht auf die Dublin II-Rückführung anwendbar. Trotzdem wurde diese im Umsetzungsgesetz neu geregelt. § 57 II -2. Halbsatz- AufenthG betrifft die Zurückschiebung in Dublin II-Fällenund setzt die Durchführung eines Aufnahme- oder Wiederaufnahmverfahrens nach der VO (EG) Nr. 343/2003 (Dublin II-VO) voraus. Diese Regelung betrifft nur Fälle, in denen in Deutschland selbst kein Asylgesuch vorgebracht wird - anderenfalls kommt § 18 III iVm. § 18 II Nr. 2 AsylVfG zur Anwendung. Allerdings
hat Art. 7 I VO (EG) Nr. 1560/2003 Anwendungsvorrang - danach ist auch
die Ausreise aufgrund eigener Initiative und die begleitete Ausreise
zulässig.
5.4 Informationspflicht für Opfer illegaler Beschäftigung
Gem. § 57 III AufenthG ist die Pflicht nach § 59
VIII AufenthG zur Information eines Opfers illegaler Beschäftigung über
die Rechte aus Art. 6 II, 13 RL 2009/52/EG entsprechend anzuwenden.
6. Einreiseverbot
6.1 Rechtsnatur
Art. 11 I der RL sieht ein Einreiseverbot aufgrund einer Rückkehrentscheidung vor.
Im deutschen Recht führen Zurückschiebung
und Abschiebung (ebenso wie die Ausweisung) unverändert kraft
Gesetzes (§ 11 I AufenthG) zu einem Einreiseverbot.
Nach der RL ist das Einreiseverbot aber nur noch durch Verwaltungsakt zulässig, nicht mehr kraft Gesetzes
(vgl. Art. 11 I i.V.m. Art. 3 Nr. 6 der RL; Franßen-de la Cerda, ZAR
2009, 17 (20); Keßler, Asylmagazin 2012, 102 (103); Westphal/Stoppa,
Report AuslR Nr. 23, S. 2, Nr. 24, S. 2; Winkelmann, Online-Report Die
Umsetzung der RL 2008/115/EG, Migrationsrecht.net 2012, S. 20).
6.2 Befristung; EuGH-Urteil "Filev und Osmani"
Das
Einreiseverbot ist gem. Art. 11 II RL 2008/115/EG auf höchstens fünf Jahre zu befristen. Nach EuGH, Urt. v. 19.09.2013 – Rs. C-297/12- Rechtssache „Gjoko Filev" (Abschiebung in die Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedzedonien mit unbefristetem Einreiseverbot) und "Adnan Osmani“ (Ausweisung mit unbefristetem Einreiseverbot) steht die in Art. 11 II RL vorgeschriebene Befristung des Einreiseverbotes im Wege einer Einzelfallentscheidung der Regelung des § 11 I Satz 3 AufenthG entgegen, die eine Befristung der gesetzlich
eintretenden unbefristeten Einreisesperre davon abhängig macht, dass der betroffene Drittstaatsangehörige einen Antrag auf Befristung stellt (Rdnr. 34).
Unbefristete
Einreisesperren aufgrund von Altausweisungen oder Altabschiebungen aus der Zeit
vor Ablauf der Umsetzungsfrist der RL (24.12.2010) sind mit Ablauf von fünf
Jahren gegenstandslos (Rdnr. 45).
Für Altausweisungen
oder Altabschiebungen aus der Zeit zwischen Ablauf der Umsetzungsfrist (24.12.2010) und
Inkrafttreten des Zweiten Richtlinienumsetzungsgesetzes (26.11.2011) sind nicht
mit einer kraft Gesetzes eingetretenen Einreisesperre verbunden, weil die RL
bis zum Tag vor dem Inkrafttreten des Zweiten Richtlinienumsetzungsgesetzes
(26.11.2011) unmittelbar anzuwenden ist.
In beiden Fällen gelten diese Einschränkungen dem EuGH zufolge nach Art. 11 II Satz 2 RL nicht, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die
öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit
darstellt (Rdnr. 54-56).
Die Möglichkeit, den Anwendungsbereich der RL gem. Art. 2 II b) -1. Alt.- der RL für Ausweisungen einzuschränken bzw. auszuschließen, kann dem EuGH zufolge für Altfälle aus der Zeit der unmittelbaren Anwendbarkeit der RL zwischen Ablauf der Umsetzungsfrist (24.12.2010) und
Inkrafttreten des Zweiten Richtlinien-umsetzungsgesetzes (26.11.2011) nicht mehr in Anspruch genommen werden (Rdnr. 52).
6.3 Auschluss
Gegen drittstaatsangehörige Opfer von Menschenhandel (§§ 232-233a StGB) wird gem. Art. 11 III S. 2 der RL keinEinreiseverbot ausgesprochen.
Nach der Systematik der EU-Rückführungsrichtlinie RL 2008/115/EG gelten ihre Regelungen nicht für Dublin II-Rückkehrernach der VO (EG) Nr.
343/2003 - daher ist die
Dublin II-Rückführung nach der VO (EG) Nr. 1560/2003 eine Maßnahme
eigener Art, die nicht zu dem mit einer Zurückschiebung oder Abschiebung
verbundenen Einreiseverbot (Art. 11 I RL 2008/115/EG) führen dürfte.
Nach § 57 II -2. Halbs.- AufenthG und §§ 18 III, 34a AsylVfG ist aber
unverändet die Zurück- oder Abschiebung vorgesehen.
7. Zurückschiebungs-/Abschiebungshaft
7.1 Voraussetzungen
Für
Haft zur Sicherung der Zurück-oder Abschiebung wurden §§ 62 I, 62a
AufenthG in Umsetzung von Art. 15-17 der RL neu eingeführt. §
62a AufenthG betrifft den Vollzug der Haft. § 62 I AufenthG stellt
entsprechend Art. 15 I RL klar, dass die Haftanordnung nur
als letztes Mittel zulässig ist. Das gilt umso mehr im Falle von Haft
gegen Minderjährige und Familien. Nach
deutscher Rechtsprechung ist Haft gegen Minderjährige ohnehin unzulässig
(OLG Köln, Beschl. v. 11.09.2002 - 16 Wx 614/02; OLG Köln, Beschl. v.
05.02.2003 - 16 Wx 247/02).
Nach EuGH, Urt. v. 30.05.2013 - Rs C-534/11 (Rechtssache "Arslan") -
stehen die EU-Aufnahmerichtlinie RL 2003/9/EG - jetzt RL 2013/33/EU -
und die EU-Verfahrensrichtlinie RL 2005/85/EG - jetzt RL 2013/32/EU -
der Aufrechterhaltung von auf der Grundlage des Art. 15 RL 2008/115/EG angeordneter Haft zur Sicherung der
Rückführung auch nach Stellen eines Antrages auf internationalen Schutz
nicht entgegen, wenn der Antrag nach den Gesamtumständen allein darauf
gerichtet ist, die Durchsetzung der Rückführung zu verzögern oder zu
gefährden und es objektiv erforderlich ist, die Haft aufrechtzuerhalten,
um zu verhindern, dass der Betroffene sich endgültig der Rückführung
entzieht.
7.2 Familien- und Minderjährigenschutz
§ 62 I AufenthG stellt
entsprechend Art. 15 I RL 2008/115/EG klar, dass die Haftanordnung nur
als letztes Mittel zulässig ist. Das gilt umso mehr im Falle von Haft
gegen Minderjährige und Familien. Nach
deutscher Rechtsprechung ist Haft gegen Minderjährige ohnehin unzulässig
(OLG Köln, Beschl. v. 11.09.2002 - 16 Wx 614/02; OLG Köln, Beschl. v.
05.02.2003 - 16 Wx 247/02).
8. Besonderheiten für die Strafbarkeit wegen unerlaubten Aufenthaltes
8.1 Neufassung des § 95 I Nr. 2 AufenthG
In
Umsetzung der RL 2008/115/EG
setzt eine Strafbarkeit nach § 95 I Nr. 2 a)-c) AufenthG in der Fassung
des
Zweiten Gesetzes zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher und
asylrechtlicher
Richtlinien der Europäischen Union vom 22.11.2011 – BGBl. 2011 I 2258 v.
25.11.2011, in Kraft getreten 26.11.2011 – voraus, dass a) vollziehbare
Ausreisepflicht besteht (§ 50 I i.V.m. § 58 II AufenthG), b) eine
Ausreisefrist iSv. Art. 7 I RL 2008/115/EG gesetzt wurde und abgelaufen
ist (§ 59 I Satz 1 AufenthG) oder eine Ausreisefrist nicht gewährt wurde
(Art. 7 IV RL 2008/115/EG, § 59 I Satz 2 -2. Alt.-, Satz 3 AufenthG)
und c) die Abschiebung nicht ausgesetzt ist.
8.2 EuGH-Urteile "El Dridi", "Achughbabian"und "Sagor"
Eine weitere Einschränkung ergibt sich aus der EuGH-Rechtsprechung. Nach EuGH, Urt. v.
28.04.2011 - Rs Cs-61/11 (Rechtssache "El
Dridi ./. Tribunale di Trento") steht Art.
15, 16 RL 2008/115/EG einer innerstaatlichen Regelung
entgegen, wonach gegen einen Drittstaatsangehörigen allein deshalb eine
Freiheitsstrafe verhängt werden kann, weil er sich entgegen einer
Rückkehrentscheidung i.S.d. Art. 3 RL 2008/115/EG und nach Ablauf der
Ausreisefrist illegal im Hoheitsgebiet des betr. Schengen-Staates weiterhin
aufhält. Das EuGH-Urteil muss dahin gehend verstanden werden, dass Art. 15,
16 RL 2008/115/EG mit der Regelung über die Abschiebungshaft die
Voraussetzungen für eine Freiheitsentziehung und deren Höchstdauer anlässlich
eines Rückführungsverfahrens abschließend regelt (Rdnr. 52, 60).
Diese Rechtsauffassung wurde
durch EuGH, Urt. v. 06.12.2011
- C-329/11 (Rechtssache "Achughbabian", InfAuslR 2012, 77) - bestätigt. Danach ist im Falle
festgestellter Ausreisepflicht ein Rückkehrverfahren im Sinne der RL 2008/115/EG
innerhalb kürzester Zeit durchzuführen. Dem würde es entgegen stehen, wenn vor
Vollstreckung einer Rückkehrentscheidung oder vor deren Erlass ein
Strafverfahren durchgeführt würde, das ggf. mit einer Freiheitsstrafe verbunden
ist (Rdnr. 45, 46).
Noch einmal bestätigt wurde diese Auffassung durch EuGH, Urt. v. 06.12.2012 - C-430/11 (Rechtssache "Sagor", InfAuslR 2013, 83), wonach die RL 2008/115/EG einer Strafvorschrift, die eine Geldstrafe als Reaktion auf den illegalen Aufenthalt vorsieht, nicht entgegensteht, aber einer Vorschrift entgegensteht, die Hausarrest als Rechtsfolge für unerlaubten Aufenthalt vorsieht, sofern kein Vorrang der Rückführung in dieser Vorschrift vorgesehen ist (Rdnr. 44, 45, 46).
8.3 Auswirkungen auf die Anwendbarkeit des § 95 I Nr. 2 AufenthG
Nach der EuGH-Rechtsprechung und den Zielen der Rückführungsrichtlinie setzt die Strafbarkeit nach §
95 I Nr. 2 AufenthG voraus, dass Rückkehrverfahren
vollständig eingehalten wurde, und dass der Drittstaatsangehörige sich
durch Untertauchen
der Aufsicht der Ausländerbehörde entzieht und damit außerhalb des
Rückkehrverfahrens gestellt hat (OLG Hamburg, Beschl. v. 25.01.2012 - 3 -
1/12 (Rev) - 1 Ss 196/11; KG Berlin, Beschl. v. 26.03.2012 - (4) 1 Ss
393/11 (20/12)).
Demgegenüber ist die Strafbarkeit des passlosen Aufenthaltes nach § 95 I Nr. 1 AufenthG ist mit der Rückführungsrichtlinie vereinbar, weil durch die Passlosigkeit kein Rückkehrverfahren durchgeführt werden kann (OLG München, Beschl. v. 21.11.2012 - 4 StRR 133/12).
Literaturhinweise zur EU-Rückführungsrichtlinie Basse/Burbaum/Richard, ZAR 2011, 361 Franßen-de la Cerda, ZAR 2008, 377; ZAR 2009, 17 Habbe, ZAR 2011, 286 Hörich, ZAR 2011, 281 Hörich/Bergmann, NJW 2012, 3339 Keßler, Asylmagazin 2012, 102 Westphal/Stoppa, Report Ausländer- und Europarecht Nr. 23 (2010), Nr. 24 (2011) Winkelmann, Online-Beitrag unter Migrationsrecht.net mit Stand vom 31.08.2012
Rechtsprechung zur EU-Rückführungsrichtlinie EuGH, Urt. v. 28.04.2011 - Cs-61/11 (Rechtssache "El Dridi ./. Tribunale di Trento") EuGH, Urt. v. 06.12.2011 - C-329/11 (Rechtssache "Achughbabian"), InfAuslR 2012, 77 EuGH, Urt. v. 06.12.2012 - C-430/11 (Rechtssache "Sagor"), InfAuslR 2013, 83 EuGH, Urt. v. 19.09.2013 – Rs. C-297/12
(Rechtssache „Filev und Osmani“) Schweizer Bundesgericht, Urt. v. 17.04.2012 (T 0/2) 6B_188/2012 VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 04.05.2011 - 11 S 207/11 VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 20.10.2011 - 11 S 1929/11 LG Frankfurt/M., Urt. v. 24.01.2012 - 2-29 T 15/12 VwGH Österreich, Erk. v. 20.03.2012 - 2011/21/0298 OLG Hamburg, Beschl. v. 25.01.2012 - 3-1/12 (Rev) - 1 Ss 196/11 KG Berlin, Beschl. v. 26.03.2012 - (4) 1 Ss 393/11 (20/12) OLG München, Beschl. v. 21.11.2012 - 4 StRR 133/12 VG Oldenburg, Urt. v. 04.06.2012 - 11 A 2509/12 VG Düsseldorf, Beschl. v. 04.06.2012 - 22 L 613/12