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Stand 31.10.2013

Platzierung im Hauptstudium des modularisierten SJ: HS I M 11


1. Rechtsgrundlagen

Grundlagen des EU-Rückführungsrechts sind:
- EU-Rückführungsrichtlinie RL 2008/115/EG vom 16.12.2008 (ABl.-EU 2008 L 348/98 vom 24.12.2008), in Kraft getreten 13.01.2009
- und das Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex vom 22.11.2011 (BGBl. I 2258 vom 25.11.2011), in Kraft getreten am 26.11.2011.
 
2. Gegenstand und Anwendungsbereich der EU-Rückführungsrichtlinie

2.1 Räumlicher Anwendungsbereich

Die RL 2008/115/EG ist uneingeschränkt verbindlich für alle EU-Staaten mit Ausnahme von Dänemark, Großbritannien und Irland (wegen des in den Beitrittsverträgen vereinbarten Vorbehaltes gegen die gemeinsame Visa- und Migrationspolitik).

Sie ist eingeschränkt verbindlich nur in Bezug auf Kurzaufenthalte nach dem Schengen-Recht / Art. 5 I VO (EG) Nr. 562/2006 (bis drei Monate innerhalb eines Bezugszeitraumes von sechs Monaten bzw. - zukünftig - 90 Tage innerhalb eines Bezugszeitraumes von 180 Tagen) für

- Dänemark,
-
Island,
- Liechtenstein
,
- Norwegen

- und die Schweiz.

2.2 Personeller Anwendungsbereich

Die RL bezieht sich auf Drittstaatsangehörige und gilt daher nicht für Staatsangehörige der EU- und EWR-Staaten und der Schweiz und freizügigkeitsberechtigte Familienangehörige von EU-/EWR-/Schweizer Staatsangehörigen.

2.3 Sachlicher Anwendungsbereich

Die RL 2008/115/EG regelt einheitlich die Aufenthaltsbeendung ab Eintritt der Illegalität des Aufenthaltes und Eintritt der Ausreisepflicht.

Die RL ist nicht verbindlich für folgende Fallkonstellationen:
- Zurückweisungen (Art. 2 II a) -1. Alt.- der RL),
- Abfangaufgriffe an der Außengrenze (Art. 2 II a) -2. Alt.- der RL),
- Aufenthaltsbeendung nach Ausweisung wegen einer Straftat (Art. 2 II b) -1. Alt.- der RL),
- Auslieferungen (Art. 2 II b) -2. Alt.- der RL).

Nach der RL ist der Regelfall der Aufenthaltsbeendung eine Rückkehrentscheidung zum Verlassen der Hoheitsgebiete aller Anwenderstaaten (Art. 3 Nr. 3, Art. 6 I der RL). Ausnahmen bestehen für den Fall eines Aufenthaltsrechts in einem Anwenderstaat (Art. 6 II der RL; umgesetzt in § 50 III Satz 2 AufenthG) und die interne Rückübernahme durch einen anderen Anwenderstaat aufgrund z.Zt. des Inkrafttreten (13.01.2009) geltenden Rückübernahmeabkommens (Art. 6 III der RL).

Nach der Systematik der EU-Rückführungsrichtlinie RL 2008/115/EG gelten ihre Regelungen nicht für Dublin II-Rückkehrer nach der VO (EG) Nr. 343/2003 - daher ist die Dublin II-Rückführung nach der VO (EG) Nr. 1560/2003 eine Maßnahme eigener Art, die Vorrang vor der Zurückschiebung oder Abschiebung nach §§ 57, 58 AufenthG hat (VG Frankfurt/M. NVwZ-RR 2012, 45) und nicht zu dem mit einer Zurückschiebung oder Abschiebung verbundenen Einreiseverbot (Art. 11 I RL 2008/115/EG) führen dürfte.

3. Rückkehrverfahren

3.1 Ausreisepflicht


Nach deutschem Recht kann die Ausreisepflicht gem. § 50 I AufenthG sowohl durch Verwaltungsakt als auch kraft Gesetzes eintreten.
Verwaltungsakte dieser Art können insbesondere
- der Widerruf eines Aufenthaltstitels (§ 51 I Nr. 4 iVm. § 52 AufenthG)
- oder die Ausweisung (§ 51 I Nr. 5 iVm. §§ 53, 54, 55 AufenthG)
sein. 
Fälle des Eintrittes kraft Gesetzes sind
- der Ablauf der zeitlichen Geltung eines Aufenthaltstitels (§ 51 I Nr. 1 AufenthG),
- das Erlöschen einer Aufenthaltsgestattung im Asylverfahren (§ 67 I AsylVfG),
- das Erlöschen einer Befreiung von der Visumpflicht, z.B. durch Ablauf des 90-Tage-Zeitraumes im Falle einer Visabefreiung gem. Anhang II EUVisaVO
- oder der Aufenthalt ohne erforderlichen Aufenthaltstitel nach unerlaubter Einreise.

3.2 Rückkehrentscheidung

Zentraler Bestandteil des Rückführungsverfahrens ist die Rückkehrentscheidung gem. Art. 3 Nr. 3, Nr. 4, 6 I RL 2008/115/EG.  Diese ist unverändert nicht ausdrücklich im AufenthG geregelt. Die Gewährung einer Ausreisefrist gem. § 59 AufenthG ist Teil der Rückkehrentscheidung i.S.v. Art. 6 I, 7 I RL 2008/115/EG (LG Frankfurt/M., Beschl. v. 24.01.2012 – 2-29 T 15/12). Ohne Rückkehrentscheidung ist weder eine Abschiebung noch die Anordnung von Abschiebungshaft zulässig (LG Frankfurt/M., Beschl. v. 24.01.2012 – 2-29 T 15/12).

Die Gewährung einer Ausreisefrist gem. § 59 AufenthG ist Teil der Rückkehrentscheidung iSv. Art. 6 I, 7 I RL 2008/115/EG (LG Frankfurt/M., Beschl. v. 24.01.2012 – 2-29 T 15/12). Eine Ausweisung (§§ 53, 54, 55 AufenthG) ist jedoch keine Rückkehrentscheidung (VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 04.05.2011 – 11 S 207/11; Urt. v. 20.10.2011 – 11 S 1929/11; Urt. v. 10.02.2012 – 11 S 1361/11).

3.3 Zielstaat der Ausreisepflicht

Gem. § 50 III Satz 1 AufenthG wird die Ausreisepflicht (§ 50 I AufenthG) nicht erfüllt,wenn der Drittstaatsangehörige in einen anderen EU- oder Schengen-Staat einreist, in dem er kein Aufenthaltsrecht besitzt. In diesem Fall wird die Ausreisepflicht nur durch Einreise in einen Drittstaat erfüllt. Im Falle eines Aufenthaltsrechts in einem EU-/Schengen-Staat wird die Ausreisepflicht durch Einreise in diesen Staat erfüllt. Die Regelung entspricht Art. 6 I und Art. 6 II der RL. Gem. § 50 III Satz 2 AufenthG ist der Drittstaatsangehörige in diesen Fällen aufzufordern, in den betr. EU-/Schengen-Staat auszureisen. Diese Aufforderung zur eigeninitiierten Ausreise hat Vorrang vor einer Abschiebungsandrohung und vor einer Zurück- oder Abschiebung (VG Düsseldorf, Beschl. v. 04.06.2012 - 22 L 613/12).

3.4 Ausreisefrist

Einer Abschiebung hat gem. § 59 I AufenthG in Umsetzung von Art. 7 RL 2008/115/EG das Gewähren einer Ausreisefrist von sieben bis 30 Tagen vorauszugehen. Davon kann ausnahmsweise abgesehen werden in Fällen, in denen der begründete Verdacht besteht, dass der Drittstaatsangehörige sich der Abschiebung entziehen wird oder eine Ausreise aufgrund eigener Initiative mit einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit verbunden wäre.

§ 59 VIII AufenthG schreibt das Informieren von Opfern illegaler Beschäftigung nach Art. 6 II, 13 RL 2009/52/EG vor. § 59 VII AufenthG sieht für diesen Personenkreis und Opfer von Menschenhandel eine Ausreisefrist von mindestens drei Monaten vor (in der EU-Opferschutz-Richtlinie RL 2004/81/EG allerdings als Erholungs- und Bedenkzeit und nicht als Ausreisefrist vorgesehen).

Hat der Drittstaatsangehörige in ein Aufenthaltsrecht in einem anderen EU-/Schengen-Staat, so ist er gem. § 50 III Satz 2 AufenthG (in Umsetzung von Art. 6 II RL 2008/115/EG) zur Ausreise dorthin aufzufordern - diese Ausreiseaufforderung hat Vorrang vor einer Abschiebungsandrohung und Abschiebung (VG Düsseldorf, Beschl. v. 04.06.2012 . 22 L 613/12).

4. Abschiebung

4.1 Voraussetzung

Nach ergebnislosem Ablauf der Ausreisefrist oder in Fällen ohne Gewährung der Ausreisefrist erfolgt die zwangsweise Rückführung im Wege der Abschiebung (Art. 8 RL 2008/115/EG, § 58 AufenthG). Die Zuständigkeit liegt im Regelfall bei der Ausländerbehörde (§ 71 I AufenthG).

4.2 Grenzraumabschiebung

Gem. § 71 III Nr. 1a, 1b AufenthG ist die Grenzpolizei für die Abschiebung zuständig im Falle des Aufgriffs im Grenzraum nach einer unerlaubten Einreise. Das gilt auch, wenn der Drittstaatsangehörige sich im Inland weiter bewegt hat und in einem anderen Grenzraum (ohne Einreisebezug) oder auf einem als Grenzübergangsstelle zugelassenen oder nicht zugelassenen Flughafen oder Seehafen aufgegriffen wird.

4.3 Minderjährigenschutz

In Umsetzung von Art. 10 RL 2008/115/EG ist gem. § 58 Ia AufenthG vor der Abschiebung eines Minderjährigen sicher zu stellen, dass dieser im Rückkehrstaat seiner Familie, einem zur Personensorge Berechtigten oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung übergeben wird.

5. Zurückschiebung

DieZurückschiebung ist als Ausnahme vom Rückkehrverfahren nur noch auf folgende Fallkonstellationen beschränkt:

5.1 Zurückschiebung nach "Abfangaufgriff" an der Außengrenze

Entsprechend Art. 2 II a RL 2008/115/EG ist die Zurückschiebung nach einem „Abfang-Aufgriff“ nach unerlaubter Einreise über eine Schengen-Außengrenze vorgesehen (§ 57 I AufenthG).

5.2 Intra-Schengen-Zurückschiebung

Entsprechend Art. 6 III RL 2008/115/EG darf die Zurückschiebung im Falle eines  sonstigen Inlandsaufgriffs eines vollziehbar ausreisepflichtigen Drittstaatsangehörigen erfolgen, wenn der Drittstaatsangehörige auf Grund eines am 13.01.2009 geltenden Rückübernahmeabkommens von einem der Vertragsstaaten zurück genommen wird (§ 57 II -1. Halbsatz- AufenthG).

Vertragsstaaten sind:

- Belgien,
- Bulgarien,
- Dänemark,
- Estland,
- Frankreich,
- Lettland,
- Litauen,
- Luxemburg,
- Niederlande,          
- Norwegen,
- Österreich,
- Polen,
- Rumänien,
- Schweden,
- Schweiz,
- Slowakische Republik,
- Tschechische Republik,
- Ungarn.

5.3 Dublin II-Rückführung

Die RL 2008/115/EG ist nicht auf die Dublin II-Rückführung anwendbar. Trotzdem wurde diese im Umsetzungsgesetz neu geregelt. § 57 II -2. Halbsatz- AufenthG  betrifft die Zurückschiebung in Dublin II-Fällen und setzt die Durchführung eines Aufnahme- oder Wiederaufnahmverfahrens nach der VO (EG) Nr. 343/2003 (Dublin II-VO) voraus. Diese Regelung betrifft nur Fälle, in denen in Deutschland selbst kein Asylgesuch vorgebracht wird - anderenfalls kommt § 18 III iVm. § 18 II Nr. 2 AsylVfG zur Anwendung. Allerdings hat Art. 7 I VO (EG) Nr. 1560/2003 Anwendungsvorrang - danach ist auch die Ausreise aufgrund eigener Initiative und die begleitete Ausreise zulässig.   

5.4 Informationspflicht für Opfer illegaler Beschäftigung

Gem. § 57 III AufenthG ist die Pflicht nach § 59 VIII AufenthG zur Information eines Opfers illegaler Beschäftigung über die Rechte aus Art. 6 II, 13 RL 2009/52/EG entsprechend anzuwenden.  

6. Einreiseverbot

6.1 Rechtsnatur

Art. 11 I der RL sieht ein Einreiseverbot aufgrund einer Rückkehrentscheidung vor.

Im deutschen Recht führen Zurückschiebung und Abschiebung (ebenso wie die Ausweisung) unverändert kraft Gesetzes (§ 11 I AufenthG) zu einem Einreiseverbot.

Nach der RL ist das Einreiseverbot aber nur noch durch Verwaltungsakt zulässig, nicht mehr kraft Gesetzes (vgl. Art. 11 I i.V.m. Art. 3 Nr. 6  der RL; Franßen-de la Cerda, ZAR 2009, 17 (20); Keßler, Asylmagazin 2012, 102 (103); Westphal/Stoppa, Report AuslR Nr. 23, S. 2, Nr. 24, S. 2; Winkelmann, Online-Report Die Umsetzung der RL 2008/115/EG, Migrationsrecht.net 2012, S. 20).

6.2 Befristung; EuGH-Urteil  "Filev und Osmani"

Das Einreiseverbot ist gem. Art. 11 II RL 2008/115/EG auf höchstens fünf Jahre zu befristen. Nach EuGH, Urt. v. 19.09.2013 – Rs. C-297/12 - Rechtssache „Gjoko Filev" (Abschiebung in die Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedzedonien mit unbefristetem Einreiseverbot)  und "Adnan Osmani“ (Ausweisung mit unbefristetem Einreiseverbot) steht die in Art. 11 II RL vorgeschriebene Befristung des Einreiseverbotes im Wege einer Einzelfallentscheidung der Regelung des § 11 I Satz 3 AufenthG entgegen, die eine Befristung der gesetzlich eintretenden unbefristeten Einreisesperre davon abhängig macht, dass der betroffene Drittstaatsangehörige einen Antrag auf Befristung stellt (Rdnr. 34).

Unbefristete Einreisesperren aufgrund von Altausweisungen oder Altabschiebungen aus der Zeit vor Ablauf der Umsetzungsfrist der RL (24.12.2010) sind mit Ablauf von fünf Jahren gegenstandslos (Rdnr. 45).

Für  Altausweisungen oder Altabschiebungen aus der Zeit zwischen Ablauf der Umsetzungsfrist (24.12.2010) und Inkrafttreten des Zweiten Richtlinienumsetzungsgesetzes (26.11.2011) sind nicht mit einer kraft Gesetzes eingetretenen Einreisesperre verbunden, weil die RL bis zum Tag vor dem Inkrafttreten des Zweiten Richtlinienumsetzungsgesetzes (26.11.2011) unmittelbar anzuwenden ist. In beiden Fällen gelten diese Einschränkungen dem EuGH zufolge nach Art. 11 II Satz 2 RL nicht, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt (Rdnr. 54-56).

Die Möglichkeit, den Anwendungsbereich der RL gem. Art. 2 II b) -1. Alt.- der RL für Ausweisungen einzuschränken bzw. auszuschließen, kann dem EuGH zufolge für Altfälle aus der Zeit der unmittelbaren Anwendbarkeit der RL zwischen Ablauf der Umsetzungsfrist (24.12.2010) und Inkrafttreten des Zweiten Richtlinien-umsetzungsgesetzes (26.11.2011) nicht mehr in Anspruch genommen werden (Rdnr. 52).

6.3 Auschluss

Gegen drittstaatsangehörige Opfer von Menschenhandel  (§§ 232-233a StGB) wird gem. Art. 11 III S. 2 der RL kein Einreiseverbot ausgesprochen.

Nach der Systematik der EU-Rückführungsrichtlinie RL 2008/115/EG gelten ihre Regelungen nicht für Dublin II-Rückkehrer nach der VO (EG) Nr. 343/2003 - daher ist die Dublin II-Rückführung nach der VO (EG) Nr. 1560/2003 eine Maßnahme eigener Art, die nicht zu dem mit einer Zurückschiebung oder Abschiebung verbundenen Einreiseverbot (Art. 11 I RL 2008/115/EG) führen dürfte. Nach § 57 II -2. Halbs.- AufenthG und §§ 18 III, 34a AsylVfG ist aber unverändet die Zurück- oder Abschiebung vorgesehen.

7. Zurückschiebungs-/Abschiebungshaft

7.1 Voraussetzungen

Für Haft zur Sicherung der Zurück-oder Abschiebung wurden §§ 62 I, 62a AufenthG in Umsetzung von Art. 15-17 der RL neu eingeführt. § 62a AufenthG betrifft den Vollzug der Haft. § 62 I AufenthG stellt entsprechend Art. 15 I RL klar, dass die Haftanordnung nur als letztes Mittel zulässig ist. Das gilt umso mehr im Falle von Haft gegen Minderjährige und Familien. Nach deutscher Rechtsprechung ist Haft gegen Minderjährige ohnehin unzulässig (OLG Köln, Beschl. v. 11.09.2002 - 16 Wx 614/02; OLG Köln, Beschl. v. 05.02.2003 - 16 Wx 247/02).

Nach EuGH, Urt. v. 30.05.2013 - Rs C-534/11 (Rechtssache "Arslan") - stehen die EU-Aufnahmerichtlinie RL 2003/9/EG - jetzt RL 2013/33/EU - und die EU-Verfahrensrichtlinie RL 2005/85/EG - jetzt RL 2013/32/EU - der Aufrechterhaltung von auf der Grundlage des Art. 15 RL 2008/115/EG angeordneter Haft zur Sicherung der Rückführung auch nach Stellen eines Antrages auf internationalen Schutz nicht entgegen, wenn der Antrag nach den Gesamtumständen allein darauf gerichtet ist, die Durchsetzung der Rückführung zu verzögern oder zu gefährden und es objektiv erforderlich ist, die Haft aufrechtzuerhalten, um zu verhindern, dass der Betroffene sich endgültig der Rückführung entzieht.

7.2 Familien- und Minderjährigenschutz

§ 62 I AufenthG stellt entsprechend Art. 15 I RL 2008/115/EG klar, dass die Haftanordnung nur als letztes Mittel zulässig ist. Das gilt umso mehr im Falle von Haft gegen Minderjährige und Familien. Nach deutscher Rechtsprechung ist Haft gegen Minderjährige ohnehin unzulässig (OLG Köln, Beschl. v. 11.09.2002 - 16 Wx 614/02; OLG Köln, Beschl. v. 05.02.2003 - 16 Wx 247/02).

8. Besonderheiten für die Strafbarkeit wegen unerlaubten Aufenthaltes

8.1 Neufassung des § 95 I Nr. 2 AufenthG


In Umsetzung der RL 2008/115/EG setzt eine Strafbarkeit nach § 95 I Nr. 2 a)-c) AufenthG in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 22.11.2011 – BGBl. 2011 I 2258 v. 25.11.2011, in Kraft getreten 26.11.2011 – voraus, dass a) vollziehbare Ausreisepflicht besteht (§ 50 I i.V.m. § 58 II AufenthG), b) eine Ausreisefrist iSv. Art. 7 I RL 2008/115/EG gesetzt wurde und abgelaufen ist (§ 59 I Satz 1 AufenthG) oder eine Ausreisefrist nicht gewährt wurde (Art. 7 IV RL 2008/115/EG, § 59 I Satz 2 -2. Alt.-, Satz 3 AufenthG) und c) die Abschiebung nicht ausgesetzt ist.

8.2 EuGH-Urteile "El Dridi", "Achughbabian" und "Sagor"

Eine weitere Einschränkung ergibt sich aus der EuGH-Rechtsprechung. Nach EuGH, Urt. v. 28.04.2011 - Rs Cs-61/11 (Rechtssache "El Dridi ./. Tribunale di Trento") steht Art. 15, 16 RL 2008/115/EG einer innerstaatlichen Regelung entgegen, wonach gegen einen Drittstaatsangehörigen allein deshalb eine Freiheitsstrafe verhängt werden kann, weil er sich entgegen einer Rückkehrentscheidung i.S.d. Art. 3 RL 2008/115/EG und nach Ablauf der Ausreisefrist illegal im Hoheitsgebiet des betr. Schengen-Staates weiterhin aufhält. Das EuGH-Urteil muss dahin gehend verstanden werden, dass Art. 15, 16 RL 2008/115/EG mit der Regelung über die Abschiebungshaft die Voraussetzungen für eine Freiheitsentziehung und deren Höchstdauer anlässlich eines Rückführungsverfahrens abschließend regelt (Rdnr. 52, 60).

Diese Rechtsauffassung wurde durch EuGH, Urt. v. 06.12.2011 - C-329/11 (Rechtssache "Achughbabian", InfAuslR 2012, 77) -  bestätigt. Danach ist im Falle festgestellter Ausreisepflicht ein Rückkehrverfahren im Sinne der RL 2008/115/EG innerhalb kürzester Zeit durchzuführen. Dem würde es entgegen stehen, wenn vor Vollstreckung einer Rückkehrentscheidung oder vor deren Erlass ein Strafverfahren durchgeführt würde, das ggf. mit einer Freiheitsstrafe verbunden ist (Rdnr. 45, 46).

Noch einmal bestätigt wurde diese Auffassung durch EuGH, Urt. v. 06.12.2012 - C-430/11 (Rechtssache "Sagor", InfAuslR 2013, 83), wonach die RL 2008/115/EG einer Strafvorschrift, die eine Geldstrafe als Reaktion auf den illegalen Aufenthalt vorsieht, nicht entgegensteht, aber einer Vorschrift entgegensteht, die Hausarrest als Rechtsfolge für unerlaubten Aufenthalt vorsieht, sofern kein Vorrang der Rückführung in dieser Vorschrift vorgesehen ist (Rdnr. 44, 45, 46).

8.3 Auswirkungen auf die Anwendbarkeit des § 95 I Nr. 2 AufenthG

Nach der EuGH-Rechtsprechung und den Zielen der Rückführungsrichtlinie setzt die Strafbarkeit nach § 95 I Nr. 2 AufenthG voraus, dass Rückkehrverfahren vollständig eingehalten wurde, und dass der Drittstaatsangehörige sich durch Untertauchen der Aufsicht der Ausländerbehörde entzieht und damit außerhalb des Rückkehrverfahrens gestellt hat (OLG Hamburg, Beschl. v. 25.01.2012 - 3 - 1/12 (Rev) - 1 Ss 196/11; KG Berlin, Beschl. v. 26.03.2012 - (4) 1 Ss 393/11 (20/12)).

Demgegenüber ist die Strafbarkeit des passlosen Aufenthaltes nach § 95 I Nr. 1 AufenthG ist mit der Rückführungsrichtlinie vereinbar, weil durch die Passlosigkeit kein Rückkehrverfahren durchgeführt werden kann (OLG München, Beschl. v. 21.11.2012 - 4 StRR 133/12).

Literaturhinweise zur EU-Rückführungsrichtlinie
Basse/Burbaum/Richard, ZAR 2011, 361
Franßen-de la Cerda, ZAR 2008, 377; ZAR 2009, 17
Habbe, ZAR 2011, 286
Hörich, ZAR 2011, 281
Hörich/Bergmann, NJW 2012, 3339
Keßler, Asylmagazin 2012, 102
Westphal/Stoppa, Report Ausländer- und Europarecht Nr. 23 (2010), Nr. 24 (2011)
Winkelmann, Online-Beitrag unter Migrationsrecht.net mit Stand vom 31.08.2012

Rechtsprechung zur EU-Rückführungsrichtlinie
EuGH, Urt. v. 28.04.2011 - Cs-61/11 (Rechtssache "El Dridi ./. Tribunale di Trento")
EuGH, Urt. v. 06.12.2011 - C-329/11 (Rechtssache "Achughbabian"), InfAuslR 2012, 77
EuGH, Urt. v. 06.12.2012 - C-430/11 (Rechtssache "Sagor"), InfAuslR 2013, 83
EuGH, Urt. v. 19.09.2013 – Rs. C-297/12 (Rechtssache „Filev und Osmani“)
Schweizer Bundesgericht, Urt. v. 17.04.2012 (T 0/2) 6B_188/2012
VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 04.05.2011 - 11 S 207/11
VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 20.10.2011 - 11 S 1929/11
LG Frankfurt/M., Urt. v. 24.01.2012 - 2-29 T 15/12
VwGH Österreich, Erk. v. 20.03.2012 - 2011/21/0298
OLG Hamburg, Beschl. v. 25.01.2012 - 3-1/12 (Rev) - 1 Ss 196/11
KG Berlin, Beschl. v. 26.03.2012 - (4) 1 Ss 393/11 (20/12)
OLG München, Beschl. v. 21.11.2012 - 4 StRR 133/12
VG Oldenburg, Urt. v. 04.06.2012 - 11 A 2509/12
VG Düsseldorf, Beschl. v. 04.06.2012 - 22 L 613/12

Stand: 31.10.2013

 
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