Platzierung im Hauptstudium des modularisierten SJ: HS III M 18
1. EU-Opferschutzbestimmungen
1.1 RL 2004/81/EG
Die EU-Opferschutzrichtlinie RL 2004/81/EG (ABl. EU L 261/19 vom 06.08.2004) schreibt die rechtliche Möglichkeit der Gewährung eines Aufenthaltstitels für drittstaatsangehörige Opferzeugen vor, um im Strafverfahren gegen die Beschuldigten aussagen zu können. Die RL gilt in allen EU-Staaten mit Ausnahme von Dänemark, Großbritannien und Irland.
Hintergrund der RL ist die Verfolgung einer besseren gerichtsfesten Beweiserhebung zur Bekämpfung des Menschenhandels mit den Mitteln des Strafverfahrens. Die wichtigsten Zeuginnen
sind die Opfer. Fehlt es an deren Kooperations- und Aussagebereitschaft,
ist die Überführung der Menschenhändler oft nicht möglich, ebenso wenig
eine strafrechtliche Verfolgung der Schleuser (Alt, Illegal in
Deutschland, 1999, S. 348, 350; Spang, Die neue Polizei 2003, 169
(171)). Aus Angst vor Selbstbelastung wegen des eigenen illegalen
Status, Angst vor der Polizei, vor Strafverfolgung und Abschiebung
scheuen Opfer jedoch möglicherweise den Kontakt mit der Polizei
(Geisler, Gehandelte Frauen, 2005, S. 122, 147f; Herz/Minthe,
Straftatbestand Menschenhandel, 2006, S. 200; vgl. auch den Fall BGH,
Urteil vom 18.10.2001 – 3 StR 247/01). Hinzu kommt die Angst vor
Repressalien seitens der Täter (Herz/Minthe, 2006, S. 200). Dasselbe
gilt, wenn das Opfer abgeschoben wird und daher für eine Aussage vor
Gericht nicht zur Verfügung steht (Alt, 1999, S. 350; Herz/Minthe, 2006,
S. 192f). Aus
polizeilicher Sicht ist daher die Schaffung eines legalen
Aufenthaltsstatus dringend erforderlich, um im Falle einer Bedrohung des
Opfers dieses in ein Zeugenschutzprogramm aufzunehmen, und um die
Aussage des Opfers in das Strafverfahren gegen die Beschuldigten
einzubringen (Walter, Kriminalistik 1998, 471).
1.2 RL 2011/36/EU
Die EU-Richtlinie RL 2011/36/EU zur Bekämpfung des Menschenhandels, zum Schutz der
Opfer und zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses des Rates der EU
2002/629/JI vom 05.04.2011 (ABl.-EU L
101/1 vom 15.04.2011) enthält Vorgaben für die Strafverfolgung (Art. 2-10 der RL) und Bestimmungen für die Gewährung von Schutz und Betreuung für Opfer (Art. 11-17 der RL). Die RL gilt in allen EU-Staaten mit Ausnahme von Dänemark und Großbritannien.
2. Aufenthaltstitel für drittstaatsangehörige Opferzeuginnen
2.1 Vorgabe der RL 2004/81/EG
Nach
Erwägungsgrund Nr. (9) der RL 2004/81/EG stellt die Kooperation der Opfer des
Menschenhandels (wie auch der eingeschleusten Drittstaatsangehörigen)
mit den zuständigen Behörden eine grundlegende Voraussetzung für die
Bekämpfung von Menschenhandel und Schleusungskriminalität dar. Dieses
soll durch die Möglichkeit der Legalisierung des Aufenthaltes
Betroffener in Gestalt der Erteilung eines Aufenthaltstitels umgesetzt
werden. Gem. Art. 3 I RL 2004/81/EG sind die EU-Mitgliedstaaten
verpflichtet, einen solchen Aufenthaltstitel für die Opfer des
Menschenhandels zu schaffen. Art. 3 II der Richtlinie stellt es frei,
dasselbe für Geschleuste einzuführen. Ein solcher Aufenthaltstitel ist
vorgesehen, wenn das Opfer den Kontakt zum Täter abbricht und zur
Kooperation mit den Behörden bereit ist.
2.2 Umsetzung im AufenthG
Der durch das Gesetz zur Umsetzung
aufenthaltsrechtlicher und asylrechtlicher Richtlinien der EU (BGBl.
2007 I 1970) eingefügte § 25 IVa AufenthG sieht die Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis für die Opfer von Taten nach §§ 232, 233, 233a StGB
vor, wenn - die vorübergehende Anwesenheit für ein Strafverfahren von Staatsanwaltschaft oder Gericht als sachgerecht angesehen wird, weil ohne die Aussage die Erforschung des
Sachverhaltes wesentlich erschwert wäre, - das Opfer jede Verbindung zum Beschuldigten abgebrochen hat - das Opfer die Bereitschaft erklärt hat, gegen den Beschuldigten als Zeuge
auszusagen.
Die Aufenthaltserlaubnis wird nach § 26 I Satz 3 AufenthG für sechs Monate erteilt und kann in begründeten Fällen verlängert werden.
§ 52 V AufenthG sieht den Widerruf der Aufenthaltserlaubnis für die Fälle vor, in denen - das Opfer nicht mehr zur Aussage bereit ist (Satz 1 Nr. 1), - die Zeugenaussage seitens der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts als falsch eingeschätzt wird (Satz 1 Nr. 2), - das Verfahren eingestellt wird (Satz 1 Nr. 3), - aus anderen Gründen die Erteilungsvoraussetzungen entfallen (Satz 1 Nr. 4) - oder das Opfer freiwillig wieder Kontakt zu dem oder den beschuldigten Personen aufnimmt (Satz 2).
Im Hinblick auf die Voraussetzung des Kontaktabbruches kommt es nur auf das Verhalten des Opfers an - ein Kontakt, der nur durch den Täter oder Tatverdächtigen initiiert, aufrechterhalten oder erzwungen wird, rechtfertigt keinen Widerruf der Aufenthaltserlaubnis (Nr. 25.4a2.2 Satz 3 und Nr. 52.5.1.3 Satz 2 AVwV-AufenthG).
2.3 Schutz vor Einreiseverbot nach der RL 2008/115/EG
Nach Art. 11 III Satz 2 der EU-Rückführungsrichtlinie RL 2008/115/EG wird gegen Opfer von Menschenhandel, denen ein Opferschutzaufenthaltstitel nach der RL 2004/81/EG erteilt wurde, im Falle einer Rückführung kein Einreiseverbot angeordnet. Eine Umsetzung ist in der innerstaatlichen Vorschrift des § 11 AufenthG bisher nicht erfolgt.
3. Erholungs- und Bedenkzeit
3.1 Vorgabe der RL 2004/81/EG
Die RL 2004/81/EG sieht
nicht nur den pragmatischen Einsatz der Opfer als Zeugen vor, sondern
auch, dass die Betroffenen durch die Behörden Gelegenheit erhalten, sich
dem Einfluss des Täters zu entziehen, sich psychisch und physisch von
ihrer Viktimisierung zu erholen und in ein normales soziales Leben
zurückzukehren (Art. 6 I, 8, 12 I RL 2004/81/EG).
Während Art. 13 der
Europaratkonvention zur Bekämpfung des Menschenhandels vom 16.05.2005
eine Erholungs- und Bedenkzeit von 30 Tagen vorsieht, ist der RL
2004/81/EG kein Hinweis zu entnehmen. Nach Auffassung des KOK und des
Bundes deutscher Kriminalbeamter ist eine Bedenkzeit und Erholungsphase
von mindestens drei Monaten, nach Forderung von B 90/Grüne NRW, LT-Ds
2006 - 14/1987, S. 29, von sechs Monaten erforderlich, um dem Opfer
Gelegenheit zur Erholung von Viktimisierung und Traumatisierung sowie
zur umfassenden Beratung zu gewähren.
3.2 Umsetzung im AufenthG
Der Gesetzgeber hat seit
26.11.2011 in § 59 VII Satz 2 AufenthG (bisher § 50 IIa AufenthG) für
ausreisepflichtige Opfer von Menschenhandel eine Ausreisefrist von mindestens drei Monten
(vor dem 26.11.2011: ein Monat) vorgesehen. Nach Auffassung des KOK erscheint es
unangebracht, dass die Erholungs- und Bedenkzeit nicht nur zu kurz,
sondern auch als Ausreisefrist in das Gesetz eingeführt wäre. Alternativ
wäre denkbar gewesen, diese Erholungs- und Bedenkzeit als
Erlaubnisfiktion nach Art von §§ 25 I Satz 3, 81 III AufenthG zu regeln
und damit einen sofort eintretenden legalen Aufenthaltsstatus zu
schaffen (ausführlich dazu: Schott, Menschenhandel: Die EU-Opferschutzrichtlinie wird
umgesetzt, Neue Praxis 2007, 538 (549f); Einschleusen von Ausländern, 2. Aufl. 2011, S. 463).
4. Opferschutz nach Art. 11 ff der RL 2011/36/EU
4.1 Unterstützung und Betreuung
Nach
den Erwägungsgründen Nr. (17)-(21) der RL 2011/36/EU soll die RL neben der Strafverfolgung der Tatverdächtigen auch die Gewährleistung von Schutz und Unterstützung der Opfer regeln, unabhängig vom Aufenthaltsstatus. Daher sieht Art. 11 RL 2011/36/EU vor, Opfern von Menschenhandel Unterstützung und Betreuung zu gewähren, die nicht von der Bereitschaft zur Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden abhängig gemacht werden darf (Art. 11 III der RL). Die Betreuung von Opfern mit besonderen Bedürfnissen infolge der Möglichkeit einer Schwangerschaft oder auf Grund gesundheitlicher Gründe wird besonders hervorgehoben (Art. 11 VII der RL).
4.2 Entschädigungsansprüche
Art. 12 II der RL schreibt vor, den Opfern Zugang zu einer Rechtsberatung zu ermöglichen, um Entschädigungsansprüche gegen die Täter durchzusetzen. Die Rechtsberatung hat für Opfer, die nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfügen, unentgeltlich zu erfolgen.
4.3 Zeugenschutz
Nach Art. 12 III der RL ist sicherzustellen, dass Opfer auf Grundlage einer indivuduellen Risikoeinschätzung geschützt werden. Darin eingeschlossen ist der Zugang zu Zeugenschutzprogrammen oder vergleichbaren Schutzmaßnahmen.
4.4 Schutz gegen sekundäre Viktimisierung
Nach Art. 12 IV der RL ist sicherzustellen, dass unter Wahrung der Rechte der Strafverteidiger das Risiko einer sekundären Viktimisierung zu vermeiden ist. Hervorgehoben wird die Vermeidung von - nicht erforderlichen Wiederholungen von Vernehmungen, - Sichtkontakt zwischen Opfer und Beschuldigtem in Vernehmungssituationen, - Zeugenaussagen in öffentlichen Gerichtsverhandlungen und - nicht erforderlichen Fragen zum Privatleben des Opfers.
4.5 Minderjährigenschutz
Besonders hervorgehoben wird der Minderjährigenschutz. Die RL verwendet den Begriff des Kindes als Person im Alter von unter 18 Jahren (Art. 2 VI der RL) entsprechend der Definition in der UN-Kinderkonvention. Davon weicht allerdings der Kinderbegriff im deutschen Recht (Person im Alter unter 14 Jahren, vgl. §§ 19, 176 I StGB, § 7 I Nr. 1 SGB VIII) ab. Die RL schreibt für Opfer von Menschenhandel im Kindesalter einschließlich solcher, deren Alter sich nicht sicher bestimmen lässt, es aber Gründe für die Annahme kindlichen Alters gibt (Art. 13 II der RL) besondere Maßnahmen zur Unterstützung und Betreung vor (Art. 14 der RL), insbesondere besondere Anforderungen an die Stellung als Zeuge im Strafverfahren (Art. 15 I, II der RL) und die Durchführung von Vernehmungen (Art. 15 III der RL).